Der Baumleib

Das Oben des Baumes ist der Wurzelkopf, während der Blattwerksleib oder Bewegungsleib und Fortpflanzungsleib sein Unten bildet, der Baum steckt mit seinem Kopf im Erdreich und lässt seinen Holzhals und Fortpflanzungskörper mit Blattwerk, Blüten und Saat aus der Erde hängen, in seinem Wurzelwerk hat der Baum engsten Kontakt zur Erde bevor er auf das Sonnenlicht reagiert, wird er über die Erstsubstanz Erde, vom Saatkeim bis hin zur Verholzung, Blattzeit und Blühen immer erst Erde sein, er träumt und findet seine Ideen und Vorstellungen erst einmal im Erdreich, und er wird die Gestalt seines Kopfes dort im Erdraum formen, erhält dabei einen Großteil seiner Bausubstanz aus dem Dunkelreich des Erdschoßes, atmet im Reich des Minerals, fühlt Mikrobe, Wurm und Maus, lebt selbst wurmartig, aufsaugend, verdauend, der Baum kennt und träumt sein Leben lang das Erdinnere, er strebt auch aus dem Erdschwarz in das Himmelsblau, zwischen der sich ausdehnenden Zellschicht des Kambiums und dem Holzkern seines Baumhalses bildet und unterhält er sein Leben lang im Splintholz die Steigeleitungen, während er sich ständig weiter aus dem Erdreich schiebt, hierbei füllt der Baum seine Zellrohre oder Adern mit Dunklem für das Helle und lässt seine Blätter sich entfalten, schiebt von unten nach oben, von oben nach unten, Nahrung und Information wird aus den Wurzeln in das Blattwerk transportiert und umgekehrt fließt Nahrhaftes und Wahrgenommenes aus dem Sonnenbereich des Blattwerks in den Wurzelkopf, sein Holzhals, die Astfinger so wie die Wurzeladern dienen dabei als Verteiler, das Blattwerk des Baumes ist neben Stamm und Ästen der sichtbare und bekanntere Teil des Baumkörpers, hier entsteht Verfestigendes aus Sonnenenergie, Kohlendioxyd und Chlorophyll, hier bildet sich Lebensenergie über geheimnisvolle Schmelzprozesse und fließt in Richtung Wurzel, und der Baum entwickelt in der hellen, sonnendurchfluteten Lufthülle im Zusammenhang mit dem Regen sein grünes Kleid, er atmet ein und atmet wieder aus, für uns lebensnotwendig, der Pflanzenbaum bildet Blüten, Pollen, beflügelte Saatwesen, die fast wie die befreundeten Insekten und Vögel fliegen und mit Hilfe des Windes oder des Wassers sich weit entfernen, der Fortpflanzungsleib des Baumes bewegt sich also im hellen Blau der Luftschicht, immer auf Ausdehnung und das Produzieren von Leben bedacht, während der Baumkopf im Erddunkel vom Blau des Himmels träumt und die Verholzungs- und Absterbeprozesse lenkt, gleichzeitig sich aber ständig erweitert im dunklen Schoß des Erdreichs

© Harald Finke, 1986